"Seid nicht zu nett und nicht zu freundlich"
Workshop zur Verkehrswende „Mobil in der Stadt“ der Heinrich-Böll-Stiftung Thüringen e.V.
Es ist heiß an diesem letzten Augusttag, an dem sich an die 35 Fahrradaktivist*innen in Jena eingefunden haben, um, der Einladung zum Verkehrswende-Workshop „Mobil in der Stadt“ der Heinrich-Böll-Stiftung Thüringen e.V. folgend, entschlossen das Campaigning zu üben. Sie wollen eine bessere Radfahrpolitik für Thüringen, sie wollen gehört werden, nicht nur im Kleinklein der zähen Stadtplanungen, sondern ganz oben, ganz vorn. Und tatsächlich gab es für dieses Anliegen niemals einen besseren Zeitpunkt, jetzt, da die Gefahren durch den Klimawandel von annähernd jeder/jedem politisch Verantwortlichen begriffen werden. Jetzt, da die Menschen, allen voran die jungen, Druck machen.
"Verkehrsrebell im schwarzen Anzug"
Druck machen, Aufmerksamkeit erzeugen, das versteht keiner besser als Heinrich Stößenreuther. „Ich hasse Hitze“, sagt er, und dieser Satz ist hier, im von der Sonne aufgeheizten Klimapavillon auf der Rasenmühleninsel in Jena, besonders begreiflich.„Es geht um Klimapolitik. Es geht um 1,5 Grad. Das ist der einzige Grund, warum ich mich mit dem Thema Fahrrad beschäftigt habe“, sagt er. Denn weniger Autos in den Städten bedeuten weniger CO2-Ausstoß, bedeuten vielleicht weniger Erderwärmung. Heinrich Stößenreuther wurde als Fahrradaktivist deutschlandweit bekannt. Er war Initiator des „Volksentscheids Fahrrad“ in Berlin, das schließlich 2018 im ersten Mobilitäts- und Radgesetz der Hauptstadt gipfelte und für 4000 Kilometer geschützter Radwege sorgen wird. Er weiß, wie man konfrontative oder sympathische Aktionen plant, Mehrheiten überzeugt, Dialoge führt; kurz: er weiß, wie man campaignt. Heinrich Stößenreuther ist also genau der richtige Workshopleiter an diesem Tag, für dieses Thema. Die Teilnehmer*innen, zum großen Teil ADFC-Mitglieder, folgen ihm mühelos, aufmerksam. Er fesselt und überzeugt mit Anekdoten, bewegt sich souverän im Raum, sagt druckreife, zitierfähige Sätze. Er spricht unaufgeregt und ruhig, doch das, was er sagt, verstört und wühlt auf, auch mit Witz und Kreativität. Stößenreuther wirkt uneingeschränkt glaubhaft und stets authentisch.
Im Kern geht es um den Flächenkonflikt auf der Straße
Heute trägt der „Verkehrsrebell im schwarzen Anzug“, wie er in der ZEIT beschrieben wurde, ein blaues Poloshirt und eine helle Baumwollhose. Seine Zugewandtheit macht ihn sympathisch, in dieser Runde ist er niemals unhöflich, auch wenn er Sätze sagt wie: „Ich bin nicht diplomatisch. Wir Aktivisten haben in der Klimakrise keine Zeit, diplomatisch zu sein“, um dann die gerade in Gruppenarbeit entwickelten Ziele der Teilnehmer*innen schonungslos auf Durchführbarkeit oder Attraktivität zu hinterfragen. Doch genau das ist es, was die Beteiligten weiterbringt; Stößenreuther versucht, sie stärker und klarer zu machen. „Ihr müsst Haltung einnehmen und ganz klar sagen, was ihr wollt und wo ihr hinwollt“, verdeutlicht er. Und dann muss jede*r folgenden Satz üben: „Ich will dir Fläche wegnehmen. Dann wird zwar dein Leben schlechter, aber meines wird besser.“ „Wenn ihr das nicht hinkriegt, hört auf, Verkehrswendeaktivisten zu sein“, betont Stößenreuther. Inzwischen haben es alle im Raum begriffen: „Im Kern geht es um den Flächenkonflikt und den müssen wir helfen, auszutragen. Und zwar deshalb, weil Politiker diesen nicht allein austragen können. Da brauchen sie unsere Hilfe. Wenn wir das nicht machen, wird nichts passieren. Keiner kann mehr Fläche kriegen, ohne dass sie anderen weggenommen wird“. Konkret: den Autofahrer*innen. Denn: Um die CO2-Emission in Städten um 40% zu senken, brauche es dreimal mehr Radverkehr. Dafür muss man Parkplätze und Fahrspuren in Radwege umwandeln, so das Ziel.
Es bleibt die Frage nach dem WIE
Bleibt immer noch die Frage nach dem Wie. Wie bringt man politisch Verantwortliche dazu, sich um die Belange der Radfahrer*innen zu kümmern? Denn da gibt es ein Problem, wie Stößenreuther weiß: „Vor euch haben sie wenig Respekt, Tut mir leid, dass ich das so sage. Seid nicht zu nett und nicht zu freundlich. Sie müssen mehr für euch tun und das tun sie nur dann, wenn sie euch respektieren. Es ist keine sympathische Geschichte. Es wird Verlierer geben, es ist ein Konflikt und diesen Konflikt muss man austragen mit allem, was dazugehört“. Dabei hilft zum einen die klare Haltung, die schon alle geübt haben. Und zum anderen konkretes Handwerkszeug. Wie meldet man eine Demo an? Welche Aktionen sind medienwirksam? Worauf muss man achten? Wie mobilisiert man Mitstreiter*innen? Wie überzeugt man Politiker*innen? Wie geht man mit Journalisten*innen um? Wann ruft man sie am besten an? „Auch negative Berichte verändern Debatten. Das sorgt für Denken im Kopf, erregt Widerspruch“, erklärt Heinrich Stößenreuther. Die Teilnehmer*innen müssen viel üben in diesen knapp drei Stunden und das alles in einer Art Schnelldurchlauf. Denn mittags um eins müssen die meisten von ihnen weiter. Die Heinrich-Böll-Stiftung wird das Thema weiter im Blick behalten. So betonte Marco Schrul, Aufsichtsratsmitglied der Thüringer Böll-Stiftung, in seiner Eröffnungsrede: „Die Verkehrswende und die Landwirtschaft sind die zwei großen Themenfelder, wenn man den Klimaschutz angehen will“.
Draußen brennt die Sonne, im Pavillon staut sich die Hitze. Die Aktivist*innen steigen auf ihre Räder und machen sich auf den Weg. Heinrich Stößenreuther tauscht seine schwarzgeränderte Brille gegen eine dunkle Sonnenbrille und verabschiedet sich für heute aus dem aufgeheizten Klimapavillon in Jena. Er hat noch ein wenig Zeit, bevor seine Bahn gen Berlin fährt. Zeit, um ein kleines Stückchen Thüringen, ein Bundesland, das er kaum kennt, wenigstens ein bisschen zu erkunden.
von Carmen Fiedler